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Eltern dürfen sich was trauen

Stephanie Kaut, 22.06.2019

Eltern dürfen sich was trauen

Koop-Tag 25.05.2019

In der Schule am Wolfsbühl ist die „Basisstation“ für den Sonderpädagogischen Dienst in Oberschwaben angesiedelt. Er betreut die hörgeschädigten Schüler in der Regelschule – mit Beratung von Lehrern und Eltern, Information und Unterstützung bei Förderungsmaßnahmen und vielem mehr.

Da heute viele hörgeschädigte Schüler in die Regelschule gehen, ist es nicht mehr selbstverständlich, dass sie auch Kontakt zu anderen hörgeschädigten Schülern haben. Auch für die Eltern bedeutet dies häufig erst mal das Gefühl, alleine auf weiter Flur zu stehen. Der jährlich stattfindende Koop-Tag bietet hier Abhilfe: Die Kinder durften sich mit ihresgleichen bei selbst ausgesuchten Workshops austoben – dieses Jahr hatten sie die Wahl zwischen Pferd pflegen, Film drehen, Töpfern oder einfach Spielen – und die Eltern bekamen einen Workshop angeboten.

Selbstwertentwicklung und Hörbehinderung

Dieses Jahr wurde der Workshop von Petra Kirchem, Psychologin am Implant Centrum Freiburg, moderiert. Die Therapeutin hatte viele Ideen mitgebracht – und trotz der reichlich bemessenen Zeit von 2,5 Stunden konnten wir gar nicht alle Themen bearbeiten, die sie vorbereitet hatte.

Zunächst beleuchteten wir die Begriffe „Selbstbewusstsein“ und „Selbstwert“. Das Wort „Selbstbewusstsein“ kann direkt übersetzt werden in „Sich seiner selbst bewusst sein“. Wenn ich meine Stärken und meine Schwächen, Grenzen, Schattenseiten kenne und mich so akzeptiere, wie ich bin, bin ich ein selbstbewusster Mensch. Dann bin ich weniger verletzbar und kann Kritik besser aushalten. Ich kann es mir leisten, tolerant zu sein, und ich kann über meine Fehler und Schwächen lachen. Damit hängt direkt mein Selbstwert zusammen. Wie sehr schätze ich mich selbst? Wie wertvoll bin ich? Das ist eine Bewertung – und sie muss immer wieder neu durchgeführt werden. Das Ergebnis der Bewertung hängt auch von meiner Tagesverfassung ab. Wenn ich einen guten Tag erwischt habe, dann kann ich z. B. die abwertende Bemerkung des Chefs („Die ist ja nur faul, die tut einfach nichts“) auf einen schlechten Tag seinerseits zurückführen. Wenn ich selbst einen schlechten Tag habe, dann kann ich das durchaus auch persönlich nehmen. Anders formuliert – meine Tagesverfassung bewirkt, ob ich das an mich heranlasse oder es beim Chef lassen kann.

Der Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ hat in der Pädagogik durchaus auch seine Berechtigung! Nur wenn wir uns selbst annehmen können, wie wir sind, können wir auch den anderen so annehmen, wie er ist – oder ihn auf seinem Weg begleiten. Gerade für uns als Eltern ist das wichtig!

Was ist ein gesundes Selbstbewusstsein?

Einige Fallbeispiele zeigten uns auf, was für ein gesundes Selbstbewusstsein steht – und wie wir unser Kind darin stärken können

-      Eine Studentin ist hörgeschädigt, ihre Traumstelle ist Ärztin im Operationssaal – mit entsprechenden akustischen Bedingungen. Ein mehrwöchiges Praktikum wird ihr aufzeigen, ob dies ein realistischer Weg ist für sie oder nicht. Erst danach wird sie sich Gedanken über Alternativen machen. Die Bereitschaft zu scheitern zeugt von großem Selbstbewusstsein – und von der Kenntnis der Grenzen.

-      Ein junger hörbehinderter Mensch macht schon den dritten oder vierten Anlauf zu einem Studium für einen Beruf, der kommunikativ hoch fordernd ist. Er nutzt alle Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs, kommt aber absolut nicht weiter. An diesem Beispiel entstand eine kleine Diskussion unter den Eltern: Der junge Mensch hat nicht gelernt, sinnvoll für sich zu entscheiden, sondern hat seine Ziele viel zu hoch angesetzt. Oder nutzt er seine Hörbehinderung schamlos aus, um leichter an sein Ziel zu kommen? Wie viel Anteil haben daran seine Eltern? Haben sie zu viel für ihn gemacht, sodass er nicht gelernt hat, selbst zu kämpfen?

-      Wie wichtig ist es, offen zu seiner Hörbehinderung zu stehen? Beispielsweise die Geräte sichtbar zu tragen? Hilft es mir im Alltag weiter, wenn ich das kommuniziere, was ich brauche? Für uns Eltern ist es hilfreich zu wissen, dass wir unserem Kind nicht unbedingt helfen, wenn wir ihm alles abnehmen.

Von Anfang an

Selbstwertentwicklung beginnt, sobald wir auf der Welt sind. Je nach Lebensalter hat der Mensch unterschiedliche Bedürfnisse. Als Säugling sind wir auf die Hingabe unserer Mutter angewiesen, als Kleinkind brauchen wir unsere Eltern als sichere Basis für unsere Erkundungen nach außen und als sicheren Hafen, zu dem wir zurückkehren dürfen. Mit zunehmendem Alter nabeln wir uns von den Eltern ab, separieren und individualisieren uns. Jugendliche, die in die Pubertät kommen, suchen sich ihre eigene Peergroup, an der sie sich orientieren können. Eltern sind hier als Orientierung gar nicht mehr so gefragt. Petra Kirchem betonte, dass es hier gerade für hörgeschädigte Jugendliche, die in eine Regelschule gehen, sehr wichtig sein kann, z. B. in ihrer Freizeit mit anderen hörgeschädigten Jugendlichen in Kontakt zu kommen.

Und wir Eltern?

Eltern von hörgeschädigten Kindern stehen vor ganz besonderen Herausforderungen: Sie müssen die Trauerarbeit bewältigen, dass ihr Kind nicht nur nicht normal“ ist, sondern ganz besondere Bedürfnisse hat. Sie sollten das Kind annehmen, wie es ist – mit seinen beiden Welten, die es hat: die hörende und die stille Welt. Und gerade für diese Kinder ist es besonders wichtig, die Balance zu finden – zwischen dem Schutz, den sie brauchen, und der Möglichkeit, ihre eigenen Fähigkeiten und auch ihre Beschränktheiten kennenzulernen und zu akzeptieren. Der Workshop endete mit der Vorstellung des englischen Arztes und Kinderpsychotherapeuten Donald Winnicott (1896–1971). Seine Theorie kann man so zusammenfassen: Eltern, die zu gut sind, sind genauso kontraproduktiv wie Eltern, die gar nichts machen. Denn auch hier lernen die Kinder nicht, selbstbewusst zu werden. Wir Eltern müssen nicht perfekt sein! Wir dürfen in unserer Erziehung auch Fehler machen – dann können Kinder daran wachsen.

Das war der perfekte Abschluss des Workshops, danach fanden sich Kinder, Eltern und Betreuer im Speisesaal der Schule am Wolfsbühl zum gemeinsamen Mittagessen und Austausch, bevor sich alle wieder verabschiedeten.

Stephanie Kaut

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